Unsere aktuellen Nachrichten auf einen Blick

Reinhold Beckmann liest aus seinem Buch gegen das Schweigen über den Krieg: „Aenne und ihre Brüder. Die Geschichte meiner Mutter“

Knapp 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und in einer Zeit, in der in Europa seit drei Jahren ein Krieg tobt und in Deutschland über die Wiedereinführung der Wehrpflicht diskutiert wird, waren am Wochenende in der Hörsteler Friedenskirche und der Westerkappelner Stadtkirche insgesamt 400 Frauen und Männer Zeugen einer besonderen Autorenlesung.

Zu Gast im Tecklenburger Land war auf Einladung der Evangelischen Erwachsenenbildung im Kirchenkreis Tecklenburg sowie der Kirchengemeinden Hörstel und Westerkappeln Reinhold Beckmann.

Ein Schuhkarton voller Feldpostbriefe, die Erinnerungen seiner Mutter und viele intensive Gespräche mit ihr waren die Basis des Buches „Aenne und ihre Brüder. Die Geschichte meiner Mutter“, das dem Journalisten, Musiker, Autor und früheren Moderator einer Talkshow und von Sportsendungen Plätze in Bestsellerlisten bescherte.

„Franz, Hans, Alfons und Willi. Vier Brüder. Keiner kam zurück“, so beginnt der Prolog in Beckmanns Buch. Die Dimension dieser Schicksalsschläge für die Familie, die in Wellingholzhausen im heutigen Landkreis Osnabrück zu Hause war, ist kaum fassbar und doch so nah, wenn Reinhold Beckmann aus den Briefen der Onkel und aus dem Brief seiner Mutter an einen Bruder zitiert, der als nicht zustellbar zurückgesendet worden war. Der Autor schonte sein Publikum nicht. Er ließ die jungen Männer von der Front berichten, wohl wissend, dass diese wegen der Zensur durch die Feldpostprüfstelle zurückhaltend über die Gräuel geschrieben hatten. Beckmann erzählte von über 1000 Fällen von Kannibalismus während der gut zweieinhalb Jahre dauernden Leningrader Blockade, zitierte eine Dreijährige, die auf die Frage, wo ihre ältere Schwester sei, antwortete, dass die Familie diese gegessen habe. Und er verriet, dass die Familie erst im Jahr 2003 erfahren habe, dass sein Onkel Alfons 1942 nahe Stalingrad gefallen war. Erst 61 Jahre danach waren Überreste von 33 Personen in einem Bunker in der Nähe gefunden worden, von denen 22 hatten identifiziert werden können. 100 Menschen in der Friedenskirche und rund 400 in der Stadtkirche verfolgten Beckmanns Recherche auf den Spuren der vier Onkel, die er nie kennenlernen durfte, mal gespannt, mal bewegt oder erschüttert.

Angesichts der Einblicke in die Schrecken des Zweiten Weltkriegs tat es gut, wenn Beckmann auch heitere Anekdoten seiner Familiengeschichte preisgab. So sprach er von seiner Stiefgroßmutter Maria, deren Strenge und spitzer Humor für das Pflegepersonal in dem Altenheim, in dem sie mit 99 Jahren starb, nicht „so einfach“ gewesen sei. Und er formulierte schmunzelnd, dass dem Westfälischen Frieden nichts mehr im Weg gestanden habe, nachdem sein Onkel Hans und die Mutter seiner kleinen Tochter Inge geheiratet hatten. Es sind dramaturgisch geschickt gesetzte Intermezzi wie diese, die die Gräuel, die Beckmann in seinem Buch Revue passieren lässt, auflockern und erträglich machen.

Mit den Worten „Mach was draus“ hatte Aenne Beckmann kurz vor ihrem Tod ihrem Sohn den Schuhkarton voller Feldpostbriefe überlassen. Reinhold Beckmann hat daraus eine eindrucksvolle Familiengeschichte geschrieben, die stellvertretend für viele andere steht. Seine Mutter habe darüber gesprochen und über die Brüder getrauert, machte Beckmann am Sonntag aber auch den Unterschied zu vielen anderen Familien in Deutschland deutlich.

„Ich kann euch nicht das ganze Buch vorlesen“, sagte er in der Stadtkirche und erntete ein vielstimmiges Bedauern aus den Kirchenbänken. Viele Besucherinnen und Besucher ließen es sich in der Pause nicht nehmen, ihr Exemplar von „Aenne und ihre Brüder“ vom Autor signieren zu lassen. So lang war die Schlange und so schnell der Büchertisch leergekauft, dass die Veranstalter kurzerhand umdisponierten und eine Fortsetzung fürs Ende des Abends zusagten.

Wer sich während der Lesung über die Gitarre gewundert hatte, die einsam im Chorraum gestanden hatte, freute sich am Ende über das Lied „Vier Brüder“ das Reinhold Beckmann als Zugabe anstimmte. Am Volkstrauertag 2021 habe er es auf einer Gedenkveranstaltung im Deutschen Bundestag spielen dürfen, erinnerte er sich. „Gegen das Vergessen“, möchte man sagen. Die Generation, die dieses unendliche Leid erlebt habe, könne bald nicht mehr davon erzählen, wie schlimm Krieg und Gewalt seien, hatte Pastor Olaf Maeder in seiner Begrüßung gesagt und die Sorge geäußert, dass es dadurch in Vergessenheit geraten könne. 

Bericht: Dietlind Ellerich 

Zurück