Unsere aktuellen Nachrichten auf einen Blick

Versöhnungsarbeit der Initiative „Den Kindern von Tschernobyl“ - 35. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe

„Jede Generation kennt ein paar Ereignisse, die sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt haben“, so Superintendent André Ost zum 35. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe. „Für mich und meine Generation ist es ganz sicher die Reaktorkatastrophe. Mit dem Unfall am 26. April 1986 wurde das damals Unvorstellbare wahr.“ Seit 29 Jahren setzt sich die Ibbenbürener Initiative „Den Kindern von Tschernobyl“ im Tecklenburger Land für Menschen aus Minsk/Belarus ein.

„Die Initiative ist eine Aktion gegen das Vergessen“, betont Ost. Sie sei jedoch in erster Linie eine große Hilfe für Kinder dieser Region. War direkt nach dem Unfall jedes fünfte Kind von Krankheit und Behinderung durch die Folgen der Bestrahlung unmittelbar betroffen, so ist heute nur jedes fünfte Kind gesund.

Der Superintendent: „Die Ferienaktionen helfen in meinen Augen in dreifacher Weise: den Kindern, die bei den Freizeiten ihre angeschlagene Gesundheit nachweislich verbessern. Den Helferinnen und Helfern, die einen Beitrag zur Völkerverständigung leisten und schließlich der Öffentlichkeit. Dadurch, dass die Initiative lebt, wird klar, wie wertvoll so ein Netzwerk zivilgesellschaftlichen Engagements sein kann“, so Ost weiter. Und Pfarrer Reinhard Lohmeyer, Kirchengemeinde Ibbenbüren, ergänzt: “Allen Beteiligten sei ein großer Dank ausgesprochen für das, was sie leisten. Besonders auch den Gastfamilien, die sich haben herausfordern lassen. Sie haben manche Krise durchgemacht und mancherlei Freude erlebt. Die Initiative ist Ausdruck zwischenmenschlicher Solidarität, die keine Grenzen kennt“.  

Christine Fernkorn, Öffentlichkeitsreferentin des Kirchenkreises Tecklenburg, führte zum 35. Jahrestag von Tschernobyl ein Interview mit Pfarrer i. R. Reinhard Paul. Er hat die Anfänge der Initiative vor 29 Jahren erlebt und begleitet die Arbeit im Leitungsteam bis heute.

Sie sagen, das Herzstück der Initiative seien die Gasteltern, die ihre Türen öffnen und die Kinder bei sich aufnehmen. Was bedeuten die Freizeiten für die Kinder?

Die vier Wochen mit guter Nahrung und viel frischer Luft führen zu einem erstaunlichen Erfolg. Laut Leitung der Svensker Schule, die die Kinder besuchen, haben sie in der Regel drei bis vier Fehltage weniger im Monat. Das Immunsystem verbessert sich. Dazu kommt als wichtige Erfahrung das Leben in einer Gastfamilie. Sich kennenlernen, Vorurteile und Feindbilder abbauen, Raum für gegenseitige Wertschätzung schaffen. 

Wie viele Kinder nehmen denn teil?

Das ist unterschiedlich. Nachdem wir früher schon über 50 hatten, haben wir uns im Leitungskreis inzwischen auf 30 geeinigt. Durch den Rückgang der Jahrgangszahlen in der Schule und weil nicht alle Eltern die Zustimmung geben, ist die Zahl angemessen. Eingeladen sind aber alle Sieben- bis 14-Jährigen aus der Mittelschule in Svensk.

Finden Sie immer genügend Gastfamilien?

Das ist intensive Arbeit! Zur Werbung bieten wir in den höheren Stufen der Ibbenbürener Schulen Infoveranstaltungen mit Zeitzeugen, die selbst die Katastrophe erlebt haben, an. Das hinterlässt nachhaltigen Eindruck. Der Aufenthalt beginnt dann eine Woche vor unseren Sommerferien und reicht bis Ferienmitte. Jeder Gastfamilie stehen also noch drei Wochen für eigenen Urlaub zur Verfügung. Außerdem ist es möglich, dass zwei Familien sich die vierwöchige Zeit mit den Kindern teilen. Und wir zeigen Gasteltern, dass sie auch für ihre Kinder ein einzigartiges, attraktives Ferienprogramm mitgeliefert bekommen.

Wie kam es zur Gründung der Initiative?

Auslöser war eine Fahrt nach Belarus 1992 mit münsterischen Studenten und Studentenpfarrer Werner Lindemann. Die Münsteraner hatten schon Ende der 80er Jahre Fahrten nach Belarus organisiert. Nach dem unermesslichen Leid, dass das Land im Zweiten Weltkrieg erlitten hatte, wollten sie Versöhnungsarbeit leisten. Die Lehrerin Heidrun Schäfer und ihr Mann Erhard lernten in Minsk die Initiatoren der dortigen Tschernobyl-Initiative kennen, die dringend Hilfe brauchten. Über die in Münster gegründete Informationsstelle für Tschernobyl-Initiativen bekamen Schäfers Kontakt zur Schule in Svensk. Das führte 1993 zur ersten Ferienaktion dieser Mittelschule. Als Heidrun Schäfer beim zehnjährigen Bestehen der Initiative gefragt wurde, was deren Ziel sei, sagte sie: „Menschliche Begegnung, Verständigung und Versöhnung zwischen den Völkern.“ Weil sie eine engagierte Mitarbeiterin der evangelischen Gemeinde war und ich als Pfarrer von ihrem Einsatz überzeugt war, fand sie bis zu ihrem frühen Tod 2003 in mir einen verlässlichen Weggefährten.

Welche Auswirkungen hat die Corona-Krise auf Ihre Arbeit?

Die Corona-Krise war den politischen Machthabern unter Staatspräsident Lukaschenko Grund genug, die Grenze für Ferienerholungen zu schließen. 2020 und 2021 können sie nicht stattfinden. Darüber waren Kinder und Eltern traurig, aber auch uns fehlen sie. Unter den Folgen leiden auch die Mitarbeitenden der Minsker Stiftung und des Busunternehmens, die für alle Initiativen im Münsterland mit dem Transport im Sommer ihre Fahrpläne ausfüllen. Alle fürchten um ihre Existenz. Auch wir fragen uns, ob wir nach Corona teils von vorne anfangen müssen. Aber die Verbindung zu den uns vertrauten Menschen in Belarus bricht auch jetzt nicht ab. Gerade vor dem Hintergrund des erhöhten politischen Drucks machen wir uns Sorgen um das Wohl der Menschen. Eines ist auf jeden Fall dank gegenseitiger Wertschätzung und Achtung geschehen: Aus Fremden, ja einst sogar Feinden sind Freunde geworden.

Zurück