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Sich für eine offene Gesellschaft einsetzen und dem Rechtsextremismus die Stirn bieten - Diskussionsabend mit Stefan Querl

„Das Judentum ist für mich eine Religion. Ich verstehe nicht den Hass gegen das Judentum, der sich über Jahrhunderte und leider auch über die ganze Welt erstreckt“ offenbart eine Teilnehmerin des Diskussionsabends im Dietrich-Bonhoeffer-Haus in Westerkappeln ihre alarmierte Sorge und Nachdenklichkeit. In zeitlicher Nähe zum Gedenktag an die Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938) veranstaltete die Erwachsenenbildung des Kirchenkreises Tecklenburg am 10. November einen Diskussionsabend mit Stefan Querl aus Münster, dem designierten Leiter der Villa ten Hompel (Forschungseinrichtung und Gedenkstätte).

Derzeit ist Querl Beauftragter gegen Antisemitismus der Stadt Münster. Vor 84 Jahren, am 9. November 1938, riefen die Nationalsozialisten dazu auf, jüdische Geschäfte und Synagogen zu zerstören und behaupteten, der „Volkszorn“ habe sich entladen bei dieser in Wirklichkeit gesteuerten Aktion.

Beim Diskussionsabend berichtet ein Mann, der in Dinslaken am Niederrhein aufgewachsen ist: „Die Synagoge und das Waisenhaus wurden zerstört. Am 10. November sind die jüdischen Kinder aus dem Heim in einem sogenannten „Judenzug“ durch die Straßen der Stadt geschickt und angespuckt worden. Viele von ihnen, so der Dinslakener, hätten diese Erniedrigungen nicht überlebt. Er betont: „Egal, was man religiös glaubt oder politisch meint, jeder Mensch hat ein Recht auf Würde, jede Religion ist würdig. Wir sollten Fremde als Freunde sehen“. Ein anderer Teilnehmer berichtet: “Ich hätte mir in der Nachkriegsphase gewünscht, dass jemand im Rückblick auf die Nazi-Zeit zugegeben hätte “Ja, ich habe mitgemacht und stehe zu meiner Schuld.“ „Manche haben damals nur geholfen. Andere haben nicht darüber geredet“ pflichtet ein Mann bei, der diese Zeit in Mönchengladbach erlebte. „Als Kinder sind wir mit dem Rad nach Westerkappeln gefahren. Ich habe lange nicht gewusst, dass dort so viele Juden gelebt haben“, erzählt eine Frau hier aus Westfalen.

„Ich finde es erschreckend, dass der Antisemitismus in unserer Gesellschaft salonfähig geworden ist“ betont eine weitere Teilnehmerin. In den Schulen wünsche sie sich mehr Auseinandersetzung mit dem Thema. Ihr Appell:“ Wir sollten achtsam sein und uns fragen: Werde ich manipuliert oder nicht? Wenn man wenig weiß, kann man nicht achtsam sein“ unterstreicht sie. Pfarrer Jörg Oberbeckmann meint: “Der Antisemitismus ist in unserer Gesellschaft angekommen. Wie kann es sein, dass 2022 junge Menschen antisemitistisch ticken, ohne national völkisch geprägt worden zu sein?“ Er arbeite in einer Schule und stelle fest, dass das Thema Antisemitismus in keinem Fach mehr vertiefend vorkomme. Pfarrer Olaf Maeder betont, ihm sei es wichtig, mit den jungen Leuten im Gespräch zu sein. Er fährt mit den Konfis ins Jüdische Museum Dorsten und besucht mit ihnen die Ausstellung „Du Jude“ – Alltäglicher Antisemitismus in Deutschland“. Seine Kollegin, Pfarrerin Angelika Oberbeckmann berichtet: “Hier in Westerkappeln lebten zwölf jüdische Familien“. Keine habe die Nazizeit überlebt. Sie sei froh, dass in Westerkappeln immerhin inzwischen, wie an vielen anderen Orten, an die Schicksale dieser Menschen erinnert werde.   

„Judentum hat eine Vielfalt, die wir verstehen müssen“ macht Stefan Querl an diesem Abend mehrfach deutlich. Der religiöse Fanatismus sei weltlich geerdet, so der Experte. „Wir versuchen oft, die Antisemitismus-Linie von Auschwitz her zu sehen, weil wir um Erklärungen für das Unerklärliche ringen. Es gab aber auch, und das gerät aus dem Blick, auch Beispiele für ein funktionierendes Zusammenleben zwischen Juden und Christen“, so Querl weiter. Das Leben zwischen Christen und Juden sei in harten Wechseln gelaufen, aber den Tätern der NS-Zeit gebühre in ihrem Judenhass keinesfalls das „letzte Wort“. Gefährlich sei stets Gleichgültigkeit. Nur wenige Menschen nahmen während des Zweiten Weltkrieges die Verantwortung für das Überleben der Juden auf sich. „Dänemark ist die einzige Nation“, so Stefan Querl, „die kollektiv als Gerechte unter den Völkern von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel geehrt worden ist“. Die dänische Widerstandsbewegung gegen die deutsche Besatzung rettete 7000 der 8000 dänischen Juden, indem sie sie versteckte und in das neutrale Schweden schmuggelte.

Auch das Thema Nahost-Konflikt klang an diesem Abend an. „Wenn jeder etwas abgibt, können wir einen Weg finden“, ist sich ein Teilnehmer sicher. „Frieden ist möglich und unsere Chance“, findet er. Im Nahostkonflikt sei jeder Holocaust- oder Apartheids-Vergleich ein „geschichtsvergessener Fehler“, unterstreicht Stefan Querl, denn so werde die Geschichte zur Waffe. „Der Konflikt ist enorm kompliziert, so dass einfache Formeln oder Parolen nur die Oberfläche abbilden.“ Wer glaube, es gebe nur zwei Seiten, gehe komplett in die Irre in Israel und den palästinensischen Gebieten. Israel sei an seinen Grenzen nicht sicher, der Staat werde in seiner Existenz weiterhin massiv bedroht. Die Gründung 1948 nach einem Beschluss der Vereinten Nationen, Israel sollte den Menschen ein Zuhause sein. Zionismus könne raumgreifend aggressiv, aber andererseits auch Zeichen echten Zusammenhalts und zudem sehr solidarisch sein, beschreibt der 48-Jährige das Dilemma. Jeder jüdische Mensch, der sich anderenorts in der Welt unsicher fühle, erfahre Hilfe oder in Israel sogar eine sichere Heimstatt. Davon könne zum Beispiel jeder europäische Staat in Fragen von Integration, Flucht und Asyl nur lernen.

„Wir sollten den Gesprächsfaden zu den jüdischen Gemeinden aufnehmen. Zuhören ist dabei die wichtigste Technologie“ appellierte er an die Zuhörenden. „Wir müssen sagen, dass uns der Dialog mit anderen Religionen sehr wichtig ist“. Dabei gehöre es dazu, Widersprüche zuzulassen und auch mal „Rat- und Sprachlosigkeiten“ zu teilen.

Pfarrerin Adelheid Zühlsdorf-Maeder, von der Erwachsenenbildung im Ev. Kirchenkreis Tecklenburg, die gemeinsam mit der Ev. Kirchengemeinde Westerkappeln die Veranstaltungsreihe anbietet, bedankte sich bei den Teilnehmenden für die persönlichen Einblicke und Statements. „Wir müssen aufklären. Mir ist es wichtig, an diesen Themen weiterzuarbeiten“ meinte sie abschließend. Die Ausstellung „Du Jude“ – Alltäglicher Antisemitismus in Deutschland“ ist noch bis zum 23. November in Westerkappeln zu sehen.

Eine Fülle von Fragen tauchten im Dietrich Bonhoeffer Haus auch zu aktuellen antisemitischen Erscheinungsformen, zu Corona-Leugnern, Verschwörungsideologien und so genannten „Querdenkern“ auf. Eine Broschüre mit Hintergrundinfos zu Protesten und den Problemen, die das parteiübergeifende Bündnis „Gegen Vergessen Für Demokratie“ aufgelegt hat, empfahl der Referent besonders angesichts der Aktualität der Analyse. Kostenlos erhältlich ist sie per Post oder direkt als PDF im Netz:

https://www.gegen-vergessen.de/verschwoerung/

Text: Christine Fernkorn

 

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