Vier Wochen vor dem offiziellen Ende des Reichstages machte sich darum Luther unverrichteter Dinge wieder auf den Heimweg nach Wittenberg (26.4.). Oppenheim, Frankfurt, Friedberg, Grünberg, Hersfeld, Eisenach sind seine Stationen. Geplant ist noch ein Besuch beim Onkel in Möhra (3.5.).
Am 4. Mai 1521 kommt es dann zum geplanten „Verschwinden“. Eine Entführung wird vorgetäuscht und Luther ist tatsächlich „weg“ und selbst für die meisten Freunde nicht mehr aufzufinden. Noch am 17. Mai mutmaßt Albrecht Dürer: Luther sei wahrscheinlich „gemördert worden.“
Gleichzeitig haben der Kurfürst (Friedrich der Weise) und sein Kanzler Spalatin ein perfektes Alibi: sie sind noch auf dem Reichstag in Worms, könnten darum unmöglich wissen, was inzwischen passiert ist.
Dennoch werden sie kaum ruhig geschlafen haben, denn sie erleben, wie die Maßnahmen gegen Luther von Tag zu Tag verschärft werden. In der Endfassung des „Wormer Edikts“ (25.5. unterschrieben, auf den 8.5. vordatiert) verspricht der Kaiser eine hohe Belohnung auf Luthers Gefangennahme und Auslieferung. Um die Häscher anzuspornen, dürfen diese auf der Spurensuche alles Gut von Luthers Verwandten und Freunden für ihren eigenen Besitz einkassieren.
Und Luthers Schriften? Der Kaiser schreibt im „Wormser Edikt“ dazu: „Solche Bücher und Schriften sollen nicht nur gemieden, sondern aus dem Gedächtnis der Menschen gelöscht und für immer vertilgt werden.“
Wie ging es mit Luther weiter nach dem vorgetäuschten Überfall? Luther musste umsteigen: von der Kutsche auf einen für ihn völlig unbekannten Pferderücken. Mehrere Stunden waren sie so mehr oder weniger gekonnt unterwegs. Erst kurz vor Mitternacht erreichten sie die Wartburg, ein geradezu perfektes Versteck für die nächsten 300 Tage.
Todmüde wird Luther abends ins Bett gefallen sein. Drei Tage braucht er anscheinend, um sich zu erholen. Erst am 8.5. schreibt er an Melanchthon, seinen bewährten Mitstreiter in Wittenberg: Er sei wohl auf, fühle sich aber wie an einem falschen Platz. „Schweigen, leiden, beten“ so fasst er seinen Aktionsradius zusammen.
Auch wenn die Wartburg ein sicherer Ort ist, so hat solch ein Platz viele Augen und Ohren. Zum ersten Mal seit 16 Jahren legt Luther darum die Mönchsgewänder ab. Er lässt Haare und Bart wachsen und verwandelt sich mit Hilfe der Kleidung des niederen Adels in „Junker Jörg“. Ganz wohl fühlt er sich in seiner Haut dabei nicht. Aber er vertraut dabei seinen Freunden, dass es so am Besten sei.
Zwei Zimmer stehen ihm auf der Burg zur Verfügung. Ersten Lesestoff hat er dabei: die hebräische und die griechische Bibel. Anfangs scheint er aber mehr aus dem Fenster gestarrt zu haben, als sich in diese zu vertiefen.
Und so macht er das, was Viele im Home Office machen: er „twittert“ an Freunde, leidet an Bewegungsmangel und isst zu viel. Nicht gut für jemanden, der schon seit den Wormser Tagen an Verstopfung leidet. Zudem hört er von Unruhen in Jena. Liebend gern wäre er dort, steckt aber auf der Wartburg fest und hat das Gefühl zu kneifen: „Ich befürchte, als Deserteur betrachtet zu werden, der die Schlacht verlässt.“ (12. Mai an Melanchthon).
Wie sehr ihn die Einsamkeit plagt, wird deutlich an dem, was er als Absendeort schreibt: „Region der Vögel“, „Luftrevier“, „auf dem Berge“ und zunehmend „Insel Patmos“. Ihm fehlen die Studenten, die Kollegen, die Aufbruchstimmung von Wittenberg: „Ich habe hier nichts zu tun und sitze wie benommen den ganzen Tag herum.“ (14.5.) Klar gäbe es das eine oder andere Projekt, aber irgendwie findet er den Einstieg nicht.
Erst nach drei Wochen schickt er Melanchthon am 26.5. ein erstes Manuskript zum Drucken: die Auslegung des 68. Psalms. Luther scheint zu alter Form zurück zu kehren. Denn nur 6 Tage später schickt er bereits die nächsten zwei Schriftstücke (Auslegung des 119. Psalms und „Von der Beicht, ob die der Papst Macht habe zu gebieten.“).Nach fünf Wochen „Home Office“ erinnert sich Luther an seine Aufgabe als Seelsorger und schreibt ein Trostwort „Dem armen Häuflein zu Wittenberg“. Er versichert: „Ich bin von Gottes Gnaden noch so mutig und trotzig, wie ich es je gewesen bin.“ Bei aller überfälligen Ungeduld schreibt er den Wittenbergern ins Stammbuch: „Steh ab vom Zorn und lass den Grimm; erzürne dich nicht, dass du nicht auch übel tust.“ (Ps 37,8)
Bereits Anfang Juli erfährt Luther aber einen Rückschlag: „Schon acht Tage sind es, dass ich nichts schreibe, weder bete noch studiere.“ Auslöser scheint wieder ein extrem harter Stuhlgang zu sein.
Am 15.7. hat sich die Lage gebessert und Luther findet sich in seine Lage. Ein Gerücht wird ihm zugetragen, sein Aufenthaltsort wäre auf unvorsichtige Weise verraten worden. Luther arbeitet sofort an einer Gegenstrategie: er setzt einen Brief auf, der vorgibt, er sei nicht auf der Wartburg sondern in Böhmen!
Eine glatte Lüge. Aber sie zeigt, Luther scheint sich mit der Wartburg abzufinden. Dennoch: es liegen weitere 212 lähmende, aber auch spannungsgeladene Tage vor ihm.
In dieser Zeit sucht er die Versöhnung mit seinem Vater. Er wettert gegen jeglichen kirchlichen Zwang. Er deckt darum Missbräuche auf bei Beichte, Gelübden und Privatmessen. Er zögert noch bei dem Zölibat für Mönche, den Pfarrern dagegen empfiehlt er die Heirat. Er liefert in „Postillen“ Auslegungen, wie evangelische Pfarrer predigen sollten.
Zunächst sympathisiert er mit Neuerungen im Wittenberger Gemeindeleben (Messe auf Deutsch, Abendmahl in beiderlei Gestalt), die weitere Entwicklung dagegen sieht er kritisch. Darum entsteht auch seine Schrift einer „Treulichen Vermahnung zu allen Christen, sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung.“
Sein wichtigstes Werk aus der Wartburgzeit ist aber die Übersetzung des Neuen Testaments ab Mitte Dezember 1521. In nur zehn Wochen gelingt dem isolierten, aber unermüdlich Arbeitenden ein Meisterwerk der deutschen Sprache.
Wie? Er „schaut dem Volk auf’s Maul“. Er übersetzt also nicht mehr wörtlich, sondern sinngemäß. Aber das ist einen eigenen Artikel wert.
300 Tage „Home Office“:
Bei allem Frust und selbst „Anfechtungen“: Luther wusste die Zeit äußerst effizient zu nutzen. Er setzte dabei nicht auf sich selbst, sondern auf Gottvertrauen: „Ich falle oft, aber die rechte Hand des Höchsten hebt mich wieder auf.“ (1.11.)
Eine Wahrheit für das eigene Home Office?
Pfarrer Harald Klöpper