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Gedanken zur Jahreslosung

Superintendent André Ost zur biblischen Jahreslosung für das neue Jahr 2021: „Jesus Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ (Lukas 6,36).

Zeugnistag

Ich denke, ich muss so zwölf Jahre alt gewesen sein
Und wieder einmal war es Zeugnistag
Nur diesmal, dacht' ich, bricht das Schulhaus samt Dachgestühl ein
Als meines weiß und hässlich vor mir lag
Dabei war'n meine Hoffnungen keineswegs hoch geschraubt
Ich war ein fauler Hund und obendrein
Höchst eigenwillig, doch trotzdem hätte ich nie geglaubt
So ein totaler Versager zu sein

 

So, jetzt ist es passiert, dacht' ich mir, jetzt ist alles aus
Nicht einmal eine 4 in Religion
Oh Mann, mit diesem Zeugnis kommst du besser nicht nach Haus
Sondern allenfalls zur Fremdenlegion
Ich zeigt' es meinen Eltern nicht und unterschrieb für sie
Schön bunt, sah nicht schlecht aus, ohne zu prahl'n!
Ich war vielleicht 'ne Niete in Deutsch und Biologie
Dafür konnt' ich schon immer ganz gut mal'n!

Der Zauber kam natürlich schon am nächsten Morgen raus
Die Fälschung war wohl doch nicht so geschickt
Der Rektor kam, holte mich schnaubend aus der Klasse raus
So stand ich da, allein, stumm und geknickt
Dann ließ er meine Eltern kommen, lehnte sich zurück
Voll Selbstgerechtigkeit genoss er schon
Die Maulschellen für den Betrüger, das missrat'ne Stück
Diesen Urkundenfälscher, ihren Sohn

Mein Vater nahm das Zeugnis in die Hand und sah mich an
Und sagte ruhig: "Was mich anbetrifft
So gibt es nicht die kleinste Spur eines Zweifels daran
Das ist tatsächlich meine Unterschrift"
Auch meine Mutter sagte, ja, das sei ihr Namenszug
Gekritzelt zwar, doch müsse man versteh'n
Dass sie vorher zwei große, schwere Einkaufstaschen trug
Dann sagte sie: "Komm, Junge, lass uns geh'n"
Ich hab' noch manches langes Jahr auf Schulbänken verlor'n
Und lernte widerspruchslos vor mich hin
Namen, Tabellen, Theorien von hinten und von vorn
Dass ich dabei nicht ganz verblödet bin!
Nur eine Lektion hat sich in den Jahr'n herausgesiebt
Die eine nur aus dem Haufen Ballast:
Wie gut es tut, zu wissen, dass dir jemand Zuflucht gibt
Ganz gleich, was du auch ausgefressen hast!


Ich weiß nicht, ob es rechtens war, dass meine Eltern mich
Da rausholten, und wo bleibt die Moral?
Die Schlauen diskutier'n, die Besserwisser streiten sich
Ich weiß es nicht, es ist mir auch egal
Ich weiß nur eins, ich wünsche allen Kindern auf der Welt
Und nicht zuletzt natürlich dir, mein Kind
Wenn's brenzlig wird, wenn's schiefgeht, wenn die Welt zusammenfällt
Eltern, die aus diesem Holze sind.

(Reinhard Mey)

 

Was Barmherzigkeit in ganz lebenspraktischer Weise bedeuten kann, hat der Liedermacher Reinhard Mey in seinem Lied „Zeugnistag“ aus dem Jahr 1978 beschrieben. Barmherzigkeit ist selten verdient. Sie geschieht aus Mitleid und aus Gnade. Barmherzigkeit widerstreitet sogar manchmal dem gesunden Gerechtigkeitsempfinden, weswegen sie längst nicht immer für alle nachvollziehbar ist. Mich selber eingeschlossen.

Es gehört zu den Merkwürdigkeiten des Lebens, dass ich mir zwar gerne ein barmherziges Verhalten von anderen wünsche, dass ich aber auch nicht immer und jederzeit dazu bereit bin. Wo kämen wir denn da hin, wenn jeder und jede so einfach davonkäme? Wenn das jeder täte oder beanspruchen könnte? Was hätte das dann für Auswirkungen für Anstand und Moral …

Barmherzigkeit ist nicht selbstverständlich. Gerade darum ist sie so wirksam. In dem Lied von Reinhard Mey wird sie zur Lektion fürs ganze Leben. Weil einer einspringt, wo es nicht mehr verdient ist, wird sie zum Rettungsanker.

Das Gleichnis vom verlorenen Sohn aus Lukas 15, das man auch das Gleichnis vom barmherzigen Vater nennen könnte, kommt mir in den Sinn. Der jüngere Sohn hätte es in den Augen der allermeisten verdient gehabt, vom Hof gejagt zu werden, als er abgerissen und bankrott nach Hause zurückkehrt. Das vorzeitig ausgezahlte Erbe hat er bis auf den letzten Cent verprasst. Aus seinen Lebenschancen hat er nichts gemacht. Mit leeren Händen kehrt er heim, im Bewusstsein seines eigenen Versagens: „Ich bin nicht mehr wert, dass ich der Sohn meines Vaters heiße.“ Aber bevor er diesen selbstanklagenden Gedanken überhaupt aussprechen kann, läuft der Vater ihm schon entgegen und fällt ihm um den Hals: „Du warst tot und bist nun wieder lebendig. Du warst verloren und ich habe dich wiedergefunden.“

Barmherzigkeit ist eine Haltung des Mitgefühls und der Verantwortung für den Nächsten. Das Wort Barmherzigkeit ist von dem lateinischen Begriff „Misericordia“ abgeleitet. „Cor“ ist das Herz. Und „Miseri“, das sind die Armen. Misericordia bedeutet also, ein Herz zu haben für die Armen. Gemeint sind dabei nicht nur die materiell in Armut Lebenden, sondern alle an Leib und Seele Leidenden.

Die kalte Rationalität möchte uns die Barmherzigkeit gerne austreiben. Ich versuche sie mir selber oft auszureden: Ja, hat das denn einer überhaupt verdient, dass ich mich ihm zuwende? Ist er nicht selbst schuld an seinem Elend? Warum soll ausgerechnet ich mich jetzt kümmern? Da gäbe es doch andere, die viel wirksamer helfen können, u.s.w. … So ist auch die Haltung von Priester und Levit aus dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter in Lukas 10. Die finden sicher tausend gute Gründe, warum sie einfach vorbeilaufen an der Not des unter die Räuber Gefallenen. Aber einer, von dem man es am allerwenigsten erwartet, lässt sich aufhalten und tut das Notwendige. Er übt Barmherzigkeit. Er zeigt Herz, wo andere nur mit dem Verstand unterwegs sind.

„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“, sagt Jesus in der Version der Bergpredigt nach dem Lukas-Evangelium. Als Jahreslosung ist das eine Aufforderung an uns, das Jahr 2021 zu einem Jahr der Barmherzigkeit zu machen.

Das ist keine leichte Aufgabe vor dem Hintergrund der allgegenwärtigen Coronakrise. Unsere Gesellschaft ist in Anspannung, je länger die Pandemie dauert. Sie wird ungeduldiger und unleidlicher. Krisen können unsere besten Eigenschaften offenbaren, manchmal aber auch unsere schlechtesten. Die einen beschwören den Zusammenhalt, wenn es enger wird. Bei den anderen bricht aber unversehens der Egoismus durch. Die einen üben Rücksicht, die anderen säen Hass. Wir haben es im zu Ende gehenden Jahr gemerkt, wie sehr die allgemeine Nervosität, das Aus-der-Bahn-geworfen-Sein zu Spaltungen führen kann. Die Coronakrise ist noch lange nicht vorbei. Das Jahr 2021 wird zu einer weiteren Bewährungsprobe, wie wir mit der Herausforderung umgehen, die uns das Virus stellt.

Die Jahreslosung wird zur Aufforderung, in all den Ungereimtheiten und Wirren dieser Zeit das Herz sprechen zu lassen. In dem ganzen Wahnsinn des notwendigen Abstandhaltens und des Ausfalls von Gemeinschaft innerlich nicht zu verhärten, sondern den Zusammenhalt und die Achtsamkeit füreinander zu bewahren.

Barmherzig zu sein heißt, den eigenen Anspruch der (Selbst-)Gerechtigkeit zurückzustellen und das Wohl des anderen im Auge zu behalten. Barmherzig sein bedeutet, sich auf Augenhöhe zu begegnen und bewusst zu verzichten auf das Recht der eigenen Stärke. Ist das nicht viel zu heroisch, ein bisschen zu ehrenhaft, um wirklich als Handlungsanweisung für unsere harte Wirklichkeit zu taugen?

Nun, es macht sicher wenig Sinn, sich ein solches Verhalten abzuzwingen. Wir sollen auch weniger auf uns selbst sehen, als vielmehr auf Gott.

Euer Vater im Himmel ist barmherzig, sagt Jesus. Das gilt es zunächst mal zu begreifen. Gott ist barmherzig mit uns. Er begegnet mir mit Vergebung und Güte, so wie der Vater im Gleichnis vom verlorenen Sohn. Die Härte meines Urteils weicht er auf. Und er hält die Türe offen, wo Menschen sich heillos verrannt haben. Geborgen in der Güte dieses Gottes wandeln sich harte Lebenshaltungen. Der einzelne Mensch mit seinem Schicksal, der Einzelfall, beginnt zu zählen, nicht mehr nur das abstrakte Prinzip von Recht und Gesetz.

Die Barmherzigkeit, mit der Gott mich ansieht, wird zur Herausforderung, selber barmherzig zu sein. Die Barmherzigkeit Gottes will mir eine Herzensangelegenheit werden. Dann kommt alles andere von allein.

Ich wünsche uns allen ein barmherziges Jahr. Eines, in dem wir Barmherzigkeit erfahren und üben.

Gottes Segen, Gesundheit, Kraft und Zuversicht für 2021 wünscht

Ihr

Superintendent

André Ost

 

 

Gebet

 

Das alte Jahr geht zu Ende. Ein neues beginnt.

Du schenkst es uns, Gott.

Kein wirklicher Neubeginn ist es und doch ein Anstoß, neue Wege zu gehen, neue Pläne zu schmieden, neue Chancen zu nutzen.

Wir wissen: Dass gelingt, was wir uns vornehmen, liegt nicht allein in unserer Hand.

Wir wollen das neue Jahr unter deinen Segen stellen und bitten dich, dass du es für uns zum Segen werden lässt.

Amen.

           

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Erstellungsdatum: 08.01.2021